H. Karner u.a. (Hg.): Pfarrkirchen

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Titel
Pfarrkirchen. Katholische und lutherische Sakralräume und ihre barocke Ausstattung


Herausgeber
Karner, Herbert; Mádl, Martin
Erschienen
Prag 2021: Artefactum
Anzahl Seiten
500 S.
von
Peter Hersche

Pfarrkirchen gehören eindeutig zu den Stiefkindern der Kunstwissenschaft: Diese kümmert sich zunächst und seit langem in erster Linie um die anerkannten Meisterwerke und ihre genialen Schöpfer. Was im Barockzeitalter europaweit in den Dörfern an Kirchen erbaut wurde und in die Zehntausende geht, gilt als uninteressante, oftmals schematisch entworfene Dutzendware, mit der sich allenfalls Denkmalpfleger befassen müssen, wenn eine Renovation ansteht. Einer dieser Praktiker, Josef Grünenfelder, hat demgegenüber einmal zu Recht bemerkt: «Eigentlich sind es die Bauwerke des zweiten und dritten Ranges, welche das Gesicht einer Kunstlandschaft prägen.» In der Tat ist die sogenannte Sakrallandschaft ohne diese sekundären Bauten, neben den Pfarrkirchen vor allem Kapellen und Kleindenkmäler, nicht denkbar.
So begrüsst man es, nicht nur als Kunst-, sondern auch als Religions-, Sozial- und allgemeiner Kulturhistoriker, dass ein internationales, vor allem auch Ostmitteleuropa einbeziehendes Team, im Gefolge einer entsprechenden Tagung, einen umfangreichen Sammelband herausgegeben hat, der eine der ersten speziellen Veröffentlichungen zum Thema darstellt. Berücksichtigt werden katholische und lutherische Kirchen in Deutschland, Österreich und den anliegenden Staaten im Osten, wobei ein Schwerpunkt auf der Deckenmalerei liegt, was zugleich erklärt, dass Beispiele von reformierten Kirchen fehlen: In deren nüchternen «Betscheunen» kommen sie praktisch nicht vor.
Der Band wird eingeleitet von einem fulminanten Aufsatz von Martin Scheutz zur Bedeutung der Visitationsprotokolle als Quellen für den Kirchenbau und die Ausstattung seit dem 17. Jahrhundert. Im Gefolge der tridentinischen Reformen und des berühmten Traktates «Instructiones fabricae» des Karl Borromäus und ähnlicher Schriften sollten die bischöflichen Visitatoren bei ihren Besuchen jeweils auch den baulichen Zustand der Pfarrkirchen und die Schicklichkeit ihrer Ausstattung überprüfen und bei Missständen, die nach der Reformation zahlreich waren, Verbesserungsvorschläge machen. Dies wurde genau protokolliert, wodurch wir uns eine Vorstellung machen können, wie eine Kirche damals ausgesehen hat. Vor allem bei später abgerissenen Kirchen oder beim Fehlen von Bauakten (in der Schweiz z.B. im Tessin und Unterwallis) sind diese Visitationsberichte oft unsere einzigen historisch nutzbaren Quellen zu vielen Barockkirchen. Sie geben so mindestens Aufschluss über im Zug der Zeit erfolgte Veränderungen, allerdings nicht kontinuierlich, und unterlagen selbstverständlich Werturteilen der an der Visitation Beteiligten. Im Aufsatz von Scheutz können wir erfahren, worauf die Visitatoren ihr besonderes Augenmerk richteten. Anschliessend bietet Peter G. Tropper am Beispiel der Diözese Gurk noch einen Überblick, wie das Pfarrkirchenwesen organisiert war.
Unter dem Obertitel «Strategien katholischer Repräsentation» widmet sich dann fast die ganze erste Hälfte des Bandes den verschiedenen Formen, Inhalten und Ausprägungen der bildlichen Dekoration; die reine Architektur steht im Hintergrund. Der Einfluss grosser Architekten, wie etwa der Dientzenhofer, sollte gleichwohl nicht unterschätzt werden, wie Beispiele aus Schlesien zeigen. Einige Fresken zeichnen sich durch besondere Originalität aus. So finden sich in der ungewöhnlich reichhaltigen Allgäuer Pfarrkirche Bertoldshofen unter den ungefähr 150 Einzeldarstellungen auch viele Pfarrer; der den Bau fördernde Ortspfarrer Johann Ulrich Julius wollte offenbar damit seinen Nachfolgern so etwas wie einen Spiegel ihrer Pflichten vorhalten. Es gibt ferner Beispiele von Fresken, welche über die gewohnten sakralen Themen hinausgehen. Dies ist etwa der Fall im Fresko der Kuppel der Pfarrkirche von Szigetvár in Ungarn, indem nämlich dort dem heldenhaften Verteidiger der Stadt in den Türkenkriegen, Graf Zrínyi, ein Denkmal gesetzt wurde. Der den Themenkreis abschliessende Artikel von Anna Mader-Kratky gibt einen guten Überblick über die josephinischen Kirchen, die infolge der Kirchenreform des Kaisers zu Hunderten entstanden. Hier ist der Barock am Ende: Sowohl Architektur wie Ausstattung erfahren neben einer weitgehenden Schematisierung eine extreme Reduktion des Aufwands, wodurch diese Kirchen an protestantische Beispiele gemahnen.
Aus der Sicht der Schweiz mit ihren kahlen reformierten Kirchen unterschätzt man vermutlich regelmässig, dass lutherische Kirchen zuweilen eine Ausstattung aufweisen, welche katholischen Mustern kaum nachsteht. Insbesondere die Altäre haben nicht selten monumentale Dimensionen, wobei es dann auch zur interessanten Sonderform des Kanzelaltars – die Kanzel ist über dem Altar angebracht, noch weiter oben manchmal die Orgel – kommt. Solche Altaraufbauten werden an Beispielen aus verschiedenen deutschen Gegenden gezeigt, wobei auch Neuausstattungen von mittelalterlichen Kirchen berücksichtigt werden. Barocke Opulenz entfaltet sich in lutherischen Kirchen ferner in abgeschlossenen Kirchenbänken, Emporen und in beschränktem Mass, meist eher kleinformatig, in Deckenmalereien. Dabei können selbstverständlich im Gegensatz zum Katholizismus nur biblisch begründete Themen dargestellt werden. Viel Raum nehmen oft Epitaphien der führenden Familien ein: In der Marienkirche Lübeck waren es 1719 rund zweihundert. Hier besteht ebenfalls ein klarer Unterschied zu katholischen Kirchen.
Einige abschliessende Aufsätze thematisieren Spezialfragen zu äusseren Einflüssen, nämlich solche von Klöstern bei inkorporierten Kirchen, Patronatsinhabern, Grundherren und Bruderschaften. Sie sind nicht zu vernachlässigen, weil diese Institutionen und Personen auch als Mäzene fungierten. Denn ein Kirchenneubau war für jede Pfarrgemeinde ein finanzieller Kraftakt, und so fand neben dem künstlerischen nicht selten auch ein monetärer Transfer von der Stadt auf das Land statt (wobei nicht zu übersehen werden sollte, dass bei letzterem im Feudalsystem vorgängig das Umgekehrte erfolgte). Dass man sich den besonderen Wünschen der Geldgeber fügen musste, ist nicht weiter überraschend. Dieser Aspekt der Pfarrkirchenarchitektur erfordert, wie auch die Herausgeber betonen (S. 12) zentrale Aufmerksamkeit, weil damit noch verschiedene ungelöste Fragen einer Antwort harren. Eine der brennendsten ist diejenige, warum es auch Gegenden gibt, die von der Barockwelle nur wenig erfasst wurden, die mittelalterlichen Bauten im Kern weiter benutzt wurden.
Ein Personen- und Ortsregister erleichtern die Benutzung des Werks. Der Sammelband ist zu begrüssen, weil er auf eine weitgehend vernachlässigte Dimension der Kirchen-, Kultur- und Sozialgeschichte aufmerksam macht. Er erschliesst Neuland, bietet aber darüber hinaus reiche Anregung zu weiteren Forschungen. Diese können, wie auch die Herausgeber in der Einleitung betonen, nur in Zusammenarbeit verschiedener Fächer erfolgen. Das Werk fordert aber auch auf, mehr nach Osten zu blicken und entsprechende Kontakte zu pflegen. Die dortige Wissenschaft ist durchaus aktiv, gerade zu Themen wie dem unsrigen, wird aber hierzulande kaum rezipiert. Zweifellos gibt es dabei sprachliche Probleme. Der vorliegende Band erschliesst durch Übersetzung und Auswertung eine Menge Literatur in slawischen Sprachen oder Ungarisch. Das allein macht ihn schon wertvoll. Zum Schluss sei noch die opulente, meist farbige Bebilderung erwähnt. Gewiss kann sie die Anschauung am Ort selber nie ganz ersetzen. Aber nachdem die hier vorgestellten Kirchen vermutlich zuallermeist wohl recht schwierig erreichbar sind, schätzt man es, bequem zu Hause eine Vorstellung von deren Ausschmückung zu gewinnen.

Zitierweise:
Hersche, Peter: Rezension zu: Karner, Herbert; Mádl, Martin (Hg.): Pfarrkirchen. Katholische und lutherische Sakralräume und ihre barocke Ausstattung, Prag, 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 434-436. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127.

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